Der Weltbiodiversitätsrat bzw. IPBES (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services) wurde 2012 von den Vereinten Nationen (UN) ins Leben gerufen.
Dieses zwischenstaatliche Gremium mit 132 Mitgliedsstaaten hat die Aufgabe Informationen als Entscheidungshilfe der Politik zur Verfügung zu stellen.
Es werden weltweit wissenschaftliche Daten zum Thema biologische Vielfalt und Ökosystemleistungen gesammelt, analysiert und politische Handlungsoptionen zum Schutz der biologischen Vielfalt aufgezeigt.
Wir brauchen wild lebende Tier- und Pflanzenarten, beweist der Weltbiodiversitätsrat. Das Artensterben gefährdet letztlich auch uns selbst – und muss gestoppt werden.
Der Klimawandel ist bei Weitem nicht die einzige ökologische Krise, die der Planet aktuell erlebt. Das Artensterben, der Verlust von Biodiversität, hat ebenso tiefgreifende Auswirkungen. Weltweit beträgt die Waldfläche nur noch 68 Prozent im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter. Die Hälfte der lebenden Korallen ist seit 1870 verschwunden. Etwa 40 Prozent der Insektenarten könnten in den nächsten Jahrzehnten aussterben. Bis zu eine Million Arten sind weltweit vom Aussterben bedroht. Deshalb haben die Vereinten Nationen 2012 ein wissenschaftliches Gremium gegründet. Der Weltbiodiversitätsrat (IPBES) wurde nach dem Vorbild des Weltklimarates eingerichtet, um den Stand der Wissenschaft zusammenzutragen und einzuordnen.
Nun veröffentlicht der IPBES gleich zwei neue Berichte, zur nachhaltigen Nutzung wild lebender Arten und zu Werten und Wertschätzung der Natur. Vier Jahre lang haben internationale Forschungsteams von jeweils mehr als 80 Wissenschaftlern tausende Quellen ausgewertet, Fachpublikationen zusammengetragen und das Wissen lokaler und indigener Bevölkerungsgruppen gesammelt. Damit drängen die Forschenden darauf, dass die drohenden Auswirkungen des Artensterbens nicht nur anerkannt werden, sondern endlich auch tiefgreifende politische Entscheidungen nach sich ziehen. Denn die Ergebnisse zeigen deutlich: Durch die fortschreitende Ausbeutung der Natur steht nicht nur das Überleben unzähliger Tier- und Pflanzenarten auf dem Spiel, sondern letztlich auch unser eigenes.
Wer in einem Industrieland wie Deutschland lebt und nicht regelmäßig selbst loszieht, um das Abendessen im nächstgelegenen Waldstück zu sammeln oder zu jagen, mag sich die berechtigte Frage stellen, warum wir überhaupt auf wild lebende Arten angewiesen sind. Immerhin haben wir über die Jahrtausende die Zucht ertragreicher Nutztiere perfektioniert und dank moderner Landwirtschaft wachsen unsere Nutzpflanzen auf Feldern und Plantagen, die bis zum Horizont reichen.
Doch der IPBES-Bericht zur nachhaltigen Nutzung wild lebender Arten macht deutlich: Wir alle nutzen und brauchen wilde Tiere, Pflanzen, Pilze oder Algen – wahrscheinlich sogar jeden Tag.
Zum Beispiel sind Kleidung, Kosmetik und selbst modernste Medizin von der nachhaltigen Nutzung wild lebender Spezies abhängig. Nachwachsende Ressourcen, insbesondere Holz, sind weltweit ein wichtiger Energielieferant und werden als Baumaterial und für die Inneneinrichtung genutzt. Dabei stammen rund zwei Drittel der industriell verarbeiteten Holzressourcen nicht von einer Holzplantage oder der Baumschule in der Region, sondern aus wilden Baumbeständen. Jedes Jahr werden rund 90 Millionen Tonnen Fisch gefangen, der entweder direkt auf unseren Tellern landet oder als Fischmehl weiterverfüttert wird. Der Handel mit wilden Pflanzen und Pilzen ist ein Milliardengeschäft. Und nicht zuletzt ist die verbleibende Wildnis oft Teil unserer Freizeitbeschäftigung – sei es zur Erholung in der Region oder bei der Suche nach Giraffen im Serengeti-Park in Tansania. Laut der Autorinnen des neuen Berichts verzeichneten touristische Angebote zur Beobachtung von Wildtieren vor der Pandemie etwa acht Milliarden Besucher pro Jahr – eine Industrie mit einem Umsatz von rund 600 Milliarden Dollar jährlich.
Laut Bericht sind es rund 50.000 wild lebende Arten, die Menschen regelmäßig für unterschiedlichste Zwecke nutzen. Wenn diese Populationen schrumpfen oder Krankheiten entwickeln, bekommt das auch der Mensch zu spüren – zuerst diejenigen, die ohnehin in prekären Situationen leben. "Etwa 70 Prozent der Menschen in Armut sind direkt von wild lebenden Arten abhängig. Eine von fünf Personen benötigt wilde Pflanzen, Algen und Pilze für Ernährung und Einkommen", erklärt Marla Emery, Geografin und vorsitzendes Mitglied des Weltbiodiversitätsrats. Besonders betroffen seien demnach indigene Bevölkerungsgruppen sowie überdurchschnittlich viele Frauen und Kinder.
Wenn Gewässer überfischt werden, Holzressourcen knapp sind oder einige Pflanzen und Pilzarten nicht mehr in ausreichenden Mengen nachwachsen, wird die Lebensgrundlage von Milliarden Menschen bedroht. Etwa 1,1 Milliarden Menschen haben keinen konstanten Zugang zu Elektrizität und sind auf Holz als Energielieferanten angewiesen. Und insgesamt benötigt etwa ein Drittel der Weltbevölkerung Brennholz zum Kochen. Allein in der Fischerei arbeiten weltweit 120 Millionen Menschen, 90 Prozent davon in kleinen Fischereibetrieben. Der Rückgang der Fischbestände setzt diese Menschen enorm unter Druck.
In dem Bericht betrachtet das Forschungsteam die fünf Bereiche Fischerei, Sammeln von Pflanzen, Pilzen und Algen, Rodung, Freizeit und Wildtiernutzung an Land, inklusive Jagd. Für jede dieser Kategorien haben die Wissenschaftler Bewertungen und Trends dazu erstellt, wie nachhaltig die jeweiligen Praktiken betrieben werden. Nachhaltig bedeutet, dass die wild lebenden Arten zwar vom Menschen genutzt werden, sich die jeweiligen Spezies aber immer wieder regenerieren können und Biodiversität und Ökosysteme intakt bleiben.
Doch der Bericht zeigt, dass nur schätzungsweise ein Drittel der entnommenen Ressourcen in den vergangenen 40 Jahren nachhaltig genutzt worden sei, sagte der Agrarökologe Thomas Wanger von der Westlake-Universität in China dem Science Media Center. Der Bedarf an wild lebenden Tieren und Pflanzen ist in den letzten 20 Jahren in nahezu allen Bereichen gestiegen. Das hat beispielsweise zur Folge, dass bald vermehrt Kakteen, Palmfarne und Orchideenarten aussterben könnten. Rund zwölf Prozent der Baumarten in der Wildnis sind bereits bedroht. Auch der Handel mit wild lebenden Arten hat in den vergangenen vier Jahrzehnten immer weiter zugenommen. Viele exportierende Länder sind auf diese Einkommensquelle angewiesen und zahlreichen Menschen wird dadurch eine bessere Lebensgrundlage ermöglicht. Vor allem unregulierter und illegaler Handel hat den Druck auf einzelne Arten in den letzten Jahren aber enorm erhöht. Der Umsatz durch das illegale Schmuggeln von Waren, insbesondere Fisch und Holz, wird auf bis zu 199 Milliarden Dollar geschätzt.
Die Wissenslücke ist allerdings riesig. In vielen Bereichen fehlen den Forschenden schlichtweg die Informationen, um einschätzen zu können, in welchem Zustand sich die jeweilige Spezies befindet. Viele kleinere Arten, insbesondere Pflanzen, sind noch nicht einmal wissenschaftlich beschrieben.
Die Autorinnen schlagen in ihrem Bericht sieben Schlüsselstrategien vor, welche die nachhaltige Nutzung wild lebender Arten verbessern sollen. Dazu zählt der Aufruf zu inklusiven und partizipativen Entscheidungsprozessen. Politische Regulierungen müssten immer den jeweiligen ökologischen und kulturellen Kontext beachten, sollten unterschiedliche Wissensquellen einbeziehen und sowohl auf internationaler als auch auf lokaler Ebene vorangetrieben werden. Kosten und Vorteile der nötigen Transformationen müssten gerecht verteilt werden.
Einen besonderen Fokus legen die Wissenschaftler auf die Rolle indigener und lokaler Bevölkerungsgruppen. "Die nachhaltige Nutzung wild lebender Arten ist zentral für die Identität und die Existenz vieler indigener und lokaler Gemeinschaften", sagt Marla Emery. So können wir von indigenen Bevölkerungsgruppen beispielsweise lernen, dass nicht nur die Menge, sondern auch der Zeitpunkt und die Dauer der Nutzung wilder Tier- und Pflanzenarten beeinflussen, wie gut sich die jeweiligen Populationen regenerieren können. "Es gibt vielfältige Praktiken und Kulturen, die jedoch gemeinsame Werte teilen, darunter die Verpflichtung, die Natur mit Respekt zu behandeln, zu kompensieren, was entnommen wird, Verschwendung zu vermeiden, Ernte gut zu verwalten und die Gaben der Natur fair und gerecht für das Wohlbefinden der gesamten Gemeinschaft zu nutzen", sagt Emery. Die Biodiversitätsforschung solle deshalb in Zukunft stärker mit lokalen sowie indigenen Gruppen kooperieren und von ihrem Wissen lernen.
An diesem Punkt wird der zweite aktuelle Bericht des Weltbiodiversitätsrats zu Wert und Wertschätzung der Natur relevant. Die Autoren betonen darin, dass der zentrale Auslöser für das derzeitige Artensterben das Streben nach ökonomischem Wachstum sei. Politische und ökonomische Entscheidungen basierten demnach in erster Linie auf dem marktorientierten Wert von Natur und würden damit seit Jahrzehnten den falschen Fokus setzen. Vordergründig kommerzielle Interessen wie die Rolle der Natur für die Nahrungsmittelproduktion oder im Tourismus werden viel beachtet.
Dabei werden zahlreiche andere positive Effekte der Natur, etwa ihre Rolle in der Klimaregulation oder ihre Beziehung zur kulturellen Identität vieler Menschen, von Entscheidungsträgerinnen vernachlässigt. Die Autoren fordern deshalb ein grundsätzliches Umdenken: Statt nur ökonomische Werte zu beachten, sollten die unterschiedlichen Werte der Natur in all ihrer individuellen und kulturellen Vielfalt in die Gesetzgebung einfließen.
Die Handlungsvorschläge der beiden neuen Berichte sind inklusiv, konstruktiv und stimmen hoffnungsvoll. Ein zentrales Problem bleibt jedoch. Ambitionierte Ziele scheinen zwar notwendig, reichen aber lange nicht aus, um den nötigen Wandel auszulösen. "Wir brauchen nicht noch mehr Berichte, wir brauchen endlich politisches Handeln," fasst Rainer Froese, Meeresbiologe am Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel die Lage zusammen. Was dem Bericht über die nachhaltige Nutzung wild lebender Arten fehle, sei ein konkreter, verbindlicher Zeitplan.
Wie so oft in der Wissenschaft ist der Forschungsbedarf unendlich groß, bodenlos. In Zukunft werden Forschende immer häufiger Prioritäten setzen müssen. Wissenschaft liefert mehr als gute Argumente. Sie kann auch mitbestimmen, auf welche Forschungsbereiche der nächste Schwerpunkt gesetzt wird. An den Ergebnissen der Berichte wird deutlich, dass einige Arten und Ökosysteme zentral für die Lebensgrundlage von Milliarden Menschen sind. Auch die Wissenschaft selbst sollte daher nachhaltig mit ihren Ressourcen umgehen, damit diese zentralen Zusammenhänge so gut wie möglich verstanden werden. Und es bleibt zu hoffen, dass die jüngsten Erkenntnisse und Lösungsvorschläge im November beim nächsten Treffen des Washingtoner Artenschutzübereinkommens und bei der UN-Biodiversitätskonferenz im Dezember nachhaltige Veränderungen auslösen.
Zuletzt wird deutlich, welches Potenzial der nachhaltigere Umgang mit wild lebenden Arten haben kann. Viele Ziele der Vereinten Nationen für eine nachhaltige Entwicklung – wie die Bekämpfung von Armut und Hunger, der Einsatz für verbesserte Bildung, Hygiene und Gesundheit – könnten durch die nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen verbessert und stabilisiert werden. Gleichzeitig ist auch klar, dass die Bedingungen nicht leichter werden. Der große Verlust von Lebensraum, die Umweltverschmutzung, eine wachsende Weltbevölkerung und die Auswirkungen des Klimawandels setzen viele Arten unter Druck. Und diesen Druck wird auch der Mensch zu spüren bekommen.